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Leseprobe aus

"Sharièn - Das Land der verbotenen Märchen"

 

Prolog

Ein ungewöhnliches Flirren erfüllte die windstille Luft, als würde es schneien. Aber dem war nicht so. Abgesehen davon rührte sich nichts in der staubigen Einöde. Nichts bis auf zwei Frauen, die aus der kargen Ebene im Süden gelaufen kamen. Die eine schritt voraus. Die andere folgte ihr auf den Fersen, in einem mutlosen, mechanisch anmutenden Trott, als wären sie lange marschiert, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Nur ein aufmerksamer Beobachter hätte wahrgenommen, dass diese deutlich jünger als die Vorangehende und gerade so dem Kindesalter entwachsen war. Sie hielt einen größeren Abstand zu der Älteren, der das gleiche dünne schwarze Haar um die Schultern fiel wie ihr.
Am Fuß des Berges verhielten sie ihre Schritte. Es war still an diesem Ort. Nicht einmal das Rauschen des nahen riesigen Wasserfalls war hier zu hören. Wie eine gigantische Mauer ragte der Berg vor ihnen auf und verschwand in den Wolken, was seine buchstäbliche Unerreichbarkeit nur noch bekräftigte. Von weitem betrachtet war der Berg an vielen Stellen üppig bewachsen. Hier jedoch nicht. Wo sie Halt gemacht hatten, war das Gestein felsig und schwarz, was daraus schließen ließ, dass es sich um Vulkangestein handelte. An dem Ort, den sie gewählt hatten, ragte der Felsen einige Meter über den Boden hinaus, und es machte den Anschein, ein großes Stück wäre von ihm abgeschlagen worden mit dem Ziel, einen Tunnel durch den Berg zu graben.
Die Ältere kniete sich unter dem Schutz des Felsens nieder und scharrte mit den bloßen Händen ein Loch in die feuchte graue Erde. Mit mühseligem Kratzen arbeiteten sich ihre Finger tiefer in den Grund hinein, bis ihre Ellenbogen in der Mulde verschwanden, um neuen Sand heraufzuholen. Die Jüngere sah ihr schweigend zu. Stocksteif wie ein in Stein gehauenes Bildnis wartete sie aufrecht hinter der Frau und rührte sich nicht. Einzig ihr Schatten folgte dem Lauf der Sonne. Als diese den Zenit überschritten hatte und sich deutlich gen Westen wandte, sodass die Nische ins Halbdunkel getaucht wurde, beendete die Frau ihre Grabearbeiten.
Das Mädchen überreichte ihr ein Bündel, das sie die ganze Zeit über in den Armen gehalten hatte. Von fern war nicht zu erkennen, um was es sich handelte. Etwas Armlanges, Kleines war in ein schmutziges Tuch gewickelt. Die Frau nahm es in ihre erdigen Hände und bettete es behutsam in die Mulde hinein. Dann schob sie die herausgeholte Erde wieder in das Loch. Sie bemühte sich, den Sand darüber in so natürlicher Gleichmäßigkeit zu verteilen, dass es später so aussehen musste, als wäre an dieser Stelle nichts Außergewöhnliches passiert.
Nachdem ihr Werk getan war, erhob sie sich aus dem Sand und trat auf den schwarzen Stein neben die jüngere Frau.

„Unrecht möge vergeh‘n,
Zerfallen zu Staub
Und mit dem Wind verweh‘n.
Möge, der die Saat einst pflanzte,
Zerbrechen am Ende,
Als er auf unseren Gräbern tanzte.“

Die Worte waren in einem leisen Singsang gesprochen, sodass niemand außer der beiden sie hätten vernehmen können.
Andächtig senkten sie die Köpfe und fassten sich gleichzeitig mit den Händen vornüber an den Hinterkopf. Schweigend standen sie in dieser Position, bis die Ältere sich daraus löste. Ihr Blick haftete schwermütig an dem Boden der Nische. Aber es war noch etwas anderes, was ihre Augen enthielten. Hoffnung. Das orangefarbene Leuchten an ihrer Kehle bestätigte dieses innere Empfinden. Und das Wissen, dass der Tod, so allgegenwärtig er war, noch lange nicht vorbei sein würde. Vielleicht dachte sie in diesem Augenblick über die Zahl derer nach, die der Tod sich bereits zu eigen gemacht hatte. Und darüber, wie viele ihnen noch folgen würden.
Liebevoll ertastete sie die Hand des Mädchens und hielt sie fest. Gemeinsam kehrten sie diesem Ort den Rücken und begaben sich in der immer dunkler werdenden Dämmerung auf den Weg zu ihrem Zuhause. Sie sahen sich nicht mehr um. Wieder begann die Luft merkwürdig zu flimmern und etwas rieselte lautlos auf ihre Köpfe herab, was sie hätten für Schnee halten können, wäre er kalt gewesen und wüssten sie es nicht besser.
Der Ascheregen aber war nichts Ungewöhnliches für sie und die kleinen Fetzen, die durch die Luft flirrten, bedeckten ihre zerschlissenen Kleider und blieben an der schmutzigen Haut und dem ungepflegten Haar haften.
„Was hast du dort vergraben?“, fragte das Mädchen, nachdem sie mehrere Stunden gelaufen waren und bevor sie ihr Zuhause erreichten.
„Ich habe nichts begraben“, erwiderte die Ältere und der Blick ihrer Augen war unwirklich in die Ferne gerichtet, als zählte sie die Opfer.

 

83. Tag des Herbstmondes

im Jahr 100

 

1) Maroc
– Das Versteck -

Das Kreischen seines Valtórns machte ihn auf eine Bewegung am Boden aufmerksam. Maroc packte mit der zweiten Hand in das dichte Gefieder, rutschte etwas zur Seite und spähte am Kopf des riesigen Raubvogels vorbei in die Tiefe. Für seine Augen war sie undurchdringlich. Sein Reittier hingegen würde aus dieser Entfernung sogar eine Maus entdecken, sollte eine durchs Gras huschen.
„Verfolger, Ka’ratak?“, flüsterte er, obwohl das Tier ihm kaum eine Antwort geben würde.
Auf das Gespür des Riesenadlers verließ er sich blind. Der Valtórn sackte kreisend einige Fuß in Richtung des dunklen Schlunds hinab, der sich gleich unter ihnen auftun musste. Für den Moment war alles in Ordnung.
Mit jedem Meter, den sie an Höhe verloren, wurde ihm elender zumute, und er fragte sich, ob dieses unwohle Gefühl im Magen jemals verginge. Verbissen versuchte Maroc, seine Übelkeit zu ignorieren, und spähte erneut am Adlerkopf vorbei. In den dunkelgrauen frühen Morgenstunden war der Eingang nur schwer auszumachen. Einen Moment später tat dieser sich unter ihnen als finsteres Loch im Boden auf. Da war er. Der Schlot.
Weiterhin kreisend ließ der Adler sich auf seinen weit aufgespannten Flügeln in die unheimliche Finsternis gleiten. Sie verließen die freie Ebene und tauchten zwischen den Gesteinskrusten ein wie in einen Brunnenschacht, wenngleich dieser hier mehrere Dutzend Meter breit war. Der gewohnte Geruch nach Rauch und Stein empfing ihn und verdrängte das Gefühl der Übelkeit durch die Wahrnehmung des Vertrauten. Zumindest soweit, dass es ihm gelang, sich zu konzentrieren.
Je tiefer sie hinabglitten, desto mehr veränderte sich die Luft. Sie wurde stickiger, abgestandener. Sie schmeckte nach faulen Eiern. Weit unten wurde ein Glimmen sichtbar, das sich verstärkte und nach einigen Augenblicken zu einem goldroten See anwuchs. Er spürte die Wärme auf seinem Gesicht, die ihnen selbst bei einer Entfernung von über dreihundert Fuß entgegen schwebte. Dieser heiße, wenn auch abgekühlte Atem des Vulkans hauchte ihm den Kuss des Feuertodes auf die Haut. Begrüßung und Warnung zugleich.
Dann erreichten sie ihr Ziel. Für Fremde völlig unerwartet erstreckte sich auf ihrer Flughöhe ein vom Magma in den Stein gefressener Seitenarm. Sein Durchmesser zeigte sich ähnlich beachtlich wie der Krater an der Erdoberfläche und letztendlich bildete der riesige Nebenschlot eine versteckte Höhle zwischen den unzähligen Ascheschichten des Vulkans.

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